Einleitung zu Gebt der Freiheit Flügel

Hellmut G. Haasis hat der Redaktion von EPOCHE NAPOLEON die Erlaubnis erteilt, seine Arbeiten zu den deutschen Jakobinern, die unter dem Titel »Gebt der Freiheit Flügel« sowie »Spuren der Besiegten« zu veröffentlichen und so die Deutschen Jakobiner der Vergessenheit zu entreisen.

 

Diese beiden locker gefügten Bände  wollen zu einer Epoche hinführen, die für unsere Zukunft noch keineswegs alle Bedeutung eingebüßt hat: zur Zeit der Großen Revolution. Frankreich steht im Rampenlicht dieser Ära. Das Deutsche Reich haben die Geschichtsschreiber später noch mehr an den Rand abgedrängt, als es damals schon der Fall gewesen ist. Die Ansprüche, die sich mit meinem Versuch verbinden, kommen nicht hoch daher. Zu rasch würden sie von ihren Stelzen fallen. Eine einigermaßen umfassende Darstellung bleibt bei einer Epoche, die in ihrer Ausstrahlungskraft bis heute noch nicht erschöpft erscheint, ein Wunschtraum, der uns um Jahrzehnte vorauseilen kann: im Grunde genommen uneinholbar.

»Die Zeit der Jakobiner«, so lautet der Untertitel. Die Eingefuchsten werden sofort danach fragen, wie denn nun der Begriff des Jakobiners definiert wird. Ich muß sie enttäuschen. Der Begriffskampf, der seit dem Beginn der siebziger Jahre ausgefochten wird und nicht aufhören will, brachte nichts: keine Verständigung, keine Klärung, nur eine unnötige Ablenkung vom Thema. Was zutage kam, war eine neu produzierte Metageschichte statt der Darstellung gelebter Geschichte, ein Streit um den begrifflichen Hintergrund, kein Griff in die spannenden Ereignisse der Revolutionszeit selbst. Hier wurde ein unglückliches Kunstprodukt, der Begriff des Jakobiners, auf den Sockel gehoben und grell beleuchtet. Das schwere Leben der ersten revolutionären Demokraten blieb weiter in den Schatten verbannt.

Dennoch will ich nicht unterschiedslos jeden Oppositionellen zu den deutschen Jakobinern rechnen. Zu diesen zähle ich nur radikale, in der Tendenz revolutionäre Demokraten, also Anhänger der Herrschaft des souveränen Volkes. Unter ihnen lässt sich kaum weiter eindeutig differenzieren, wenn man mehr Lebensläufe als nur die der berühmtesten Jakobiner kennt. Menschen, die in ständig sich ändernden politischen Auseinandersetzungen leben, lassen sich nicht vermessen wie ein Grundstück. Der formelhaft behauptete Gegensatz zwischen Revolution und Reform ist eine Konstruktion verängstigter Abwehr. Er wurde erst später zum System ausgebaut, als das Bürgertum sich im Besitz der Macht befand und Reformen das Äußerste waren, woran es Interesse zeigen konnte. Selbst bei erklärten Revolutionären, deren eindeutiges Leben die Kunst der Definition nun wirklich überflüssig macht, findet sich der Aufruf an die Fürsten, ihre Regimes freier zu gestalten, Erleichterungen zu gewähren, Verbesserungen einzuführen. Auch die revolutionären Demokraten haben sich entwickelt; sie können nicht, wie es zumeist geschieht, neben die französischen Jakobiner auf deren Höhepunkt gestellt werden. Wir sprechen nicht umsonst von deutschen Jakobinern. Darunter sind zuerst einmal Untertanen des Deutschen Reiches zu verstehen, die innerhalb ihrer konkreten Bedingungen, die sich von denen Frankreichs gründlich unterschieden, die Impulse der Großen Revolution aufgriffen.

Meine Sicht vom Zeitalter der deutschen Jakobiner ist in anderer Beziehung ebenfalls weitherziger. Ich schließe auch österreichische, schweizerische, elsässische, böhmische, ungarische, rumänische usw. radikale Demokraten deutscher Sprache ein. Mit einer Versetzung der Grenzpfähle habe ich nichts im Sinn, eher mit der Überwindung traditioneller Abschirmung durch die modernen Nationalstaaten. Was mich interessiert, sind die Lebensläufe, Gedanken, Schriften, Kämpfe, Stimmungen, Erfolge oder Niederlagen der deutschsprachigen revolutionären Demokraten in Europa.

In Erweiterung der bisherigen Jakobinerforschung scheint es mir fruchtbar zu sein, wenn wir auch die gegnerische Seite, die sich ebenfalls als Partei herauszubilden begann, stärker zu Wort kommen lassen. Noch immer hochaktuell kommen mir die damals entwickelten Konzepte und Praktiken zur Manipulation der Öffentlichkeit vor. Die heute gängige konservative Ideologie scheint mir in wichtigen Bestandteilen bis zur Großen Revolution zurückzureichen. Auch hier ist die schichte noch nicht erledigt.

Die Epoche der deutschen Jakobiner möchte ich bis zum Jahr 1805 ausdehnen. Tatsächlich verschwanden die Chancen für eine deutsche Revolution mit dem Friedensvertrag von Lunéville (1801). Aber als

Liebhaber einer Geschichtsbetrachtung, die sich beim Niedergang und Misserfolg einer einst begeistert begrüßten Freiheitsidee nicht einfach davonstiehlt, will ich die Jakobiner auch in ihrem Niedergang begleiten. Ihre letzten Ausläufer reichten bis ins Jahr 1804. Der französische General Moreau, Konkurrent Napoleons, schien sich als Hoffnungsträger anzubieten. Mögliche Verbindungen der letzten deutschen Republikaner zur französischen Opposition jener Jahre liegen noch im dunkeln. Im selben Jahr zerschlug der württembergische Kurfürst den einst so mutigen Landtag, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Der Stuttgarter Hochverratsprozess gegen Batz, Sinclair und andere drückte der Niederlage amtlich Stempel und Siegel auf. Und doch brach schon zehn Jahre später der erstickt geglaubte württembergische Verfassungskampf wieder aus. Da wirkte mancher mit, der seine ersten politischen Erfahrungen vor 1800 gesammelt hatte.

Die untergründige Kontinuität dieser Zeit hat bisher nicht sonderlich interessiert. Bei mir schob sie sich im Laufe der Jahre in den Vordergrund. Im Linksrheinischen, am intensivsten im ehemaligen Departement Donnersberg (Mont-Tonnerre), also in der bayerischen Rheinpfalz und in Rheinhessen, schlug sich die Kontinuität mit der Französischen Revolution in einem faszinierenden demokratischen Sonderstatus nieder. Am Rande des noch halbfeudalen, monarchistischen Deutschland hielt sich lange eine neuartige Gesellschaftsordnung, die sich ganz der Revolution verdankte. Getragen vom besitzenden, juristisch und parlamentarisch versierten Bürgertum gelang es, links des Rheins bereits nach den Grundsätzen der kommenden Zeit zu leben und die Deutschen rechts des Rheins zur Nachahmung zu ermuntern. Erst die 48er-Revolution setzte dazu an, diesen wichtigen Vorsprung für ganz Deutschland aufzuholen.

Mehr als die Ansätze zu einer Archäologie der revolutionären Demokratie vermag ich mit diesen beiden Bänden nicht zu liefern. Mir lag daran, möglichst tief in die verschüttete Überlieferung vorzudringen und die verdunkelten Anfänge einer neuen Zeit freizulegen. Zu meiner eigenen Überraschung stieß ich auf eine breite Untergrundliteratur. Während der Arbeit an den beiden Bänden geriet ich immer wieder ins Staunen, mit welcher Schludrigkeit auch in diesem Punkt die Überlieferung betrieben wurde.

Die Einbeziehung der Emigrantenschicksale und damit auch des EIsasses brachte es mit sich, von der radikalsten Zeit der Französischen Revolution sprechen zu müssen: vom Jahr II der Republik (1793 / 94). Häufig sagt man dazu »Jakobinerdiktatur« oder »Terror«. Besonders der zweite Begriff nimmt eine zentrale Stellung im revolutionsfeindlichen Geschichtsbild ein, neigt zur moralisierenden Verurteilung, gar tut Verteufelung, natürlich mit einer vor Stolz geschwellten Brust, wieviel besser das eigene politische System doch sei. Wo von »Terror« die Rede ist, öffnet sich kaum der Blick in das Innere der Gesellschaft selbst. Differenzierungen in den Reihen der voriibergehend Herrschenden erscheinen unglaubhaft, zumindest uninteressant. Das Schlagwort »Terror« verbreitet eine Nacht, in der alle Katzen schwarz sind. Das Wort »Diktatur« erweckt den Eindruck, die Leute wären allesamt gezwungen worden. Davon kann im Frankreich des Ausnahmezustandes von 1793/94 nicht die Rede sein. Ohne eine gewisse, wenn auch zähneknirschende Zustimmung angesichts der katastrophalen Lage Frankreichs hätten sich die Jakobiner, die immer nur eine Minderheit ausmachten, keinen Monat halten können. Den Höhepunkt der Revolution nenne ich daher lieber die Zeit der »Terreur«. Das französische Wort für »Schrecken« soll die Fremdheit bewahren und das Phänomen auf Frankreich eingrenzen.

Wer sich bei den deutschen Jakobinern schon etwas auskennt, wird in meinen beiden Bänden viele Themen vermissen, die durchaus einer neuen Darstellung wert gewesen wären. Aber in der Zwickmühle zwischen einem riesigen Ausgrabungsgebiet und einem vergleichsweise kleinen Darstellungsrahmen in zwei Taschenbüchern schien es mir am sinnvollsten, bekannte und gut dokumentierte Ereignisse auszuklammern. Statt einer Darstellung sei die wichtigste Literatur genannt, mit der man den Anschluss gewinnt an die bisherigen großen Themen des deutschen Jakobinismus und der ihm gewidmeten Forschung.

Die Zeit der süddeutschen Jakobiner stellte Heinrich Scheel mit seinem unerreichten Pionierwerk (1962) dar. Seine Edition (1965) machte die vergessene revolutionäre Flugschriftenliteratur Süddeutschlands zugänglich. Einen zweiten Schwerpunkt des deutschen Jakobinismus stellte die Mainzer Republik von 1792/93 dar. Die grundlegenden Dokumentenbände brachte wieder Heinrich Scheel (1975—81) heraus. Zwei in ihrer Gegensätzlichkeit fruchtbar zu vergleichende Darstellungen stammen von Klaus Tervooren und Franz Dumont. Meine Bibliographie zur Mainzer Republik erschließt die gedruckten Quellen und die Sekundärliteratur. Für Österreich verfasste Helmut Reinalter die neueste Gesamtdarstellung. Derselbe Autor trug die Titel der neueren deutschsprachigen Jakobinerforschung zusammen. Für Norddeutschland bot Walter Grab eine Einführung. In den genannten Werken finden sich genügend weitere Hinweise auf Literatur.

Nachdem die deutsche Jakobinerforschung im Wissenschaftsbetrieb lange Zeit wenig beachtenswert erschien, streifte sie nun der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler in einer groß angelegten Gesellschaftsgeschichte. Mit dem Schlagwort »Defensive Modernisierung« überschreibt er »die deutsche Reaktion auf die Französische Revolution und Napoleon 1789—1815« (Wehler, S. 347—546). Ohne es eigentlich zu beabsichtigen, unterstützt Wehlers Sicht des Zeitalters die konservative, antidemokratische Geschichtsschreibung. Sein gewiss mutiger Überflug über eine in ihrem revolutionären Potential noch nicht annähernd erforschte Epoche vermag das, was von den deutschen Jakobinern für die Zukunft vorgearbeitet wurde, einfach nicht in den Blick zu bekommen. Zur Erhärtung meiner zuerst vielleicht hart erscheinenden Kritik möchte ich auf Wehlers Sicht etwas ausführlicher eingehen. Sehr rasch kommt Wehler auf Revolutionsbestrebungen im Deutschen Reich zu sprechen. Von einem Quellenstudium Wehlers kann aber wenigstens in diesem Teil nicht die Rede sein. Wehler moniert, dass die Revolutionäre sich überschätzt hätten, leider ein gängiger Einwand konservativer Ideologie gegen die Unterlegenen, vom hohen Ross der Sieger herab verkündet. Wehler eilt mit dem richtigen Maßstab herbei und rückt die Einschätzung zurecht. Sobald er von seinem Überflug zur Landung im Konkreten ansetzt und sich im Sumpf der Einzelheiten zu verlieren beginnt, könnte es spannend werden. Aber es wird einfach nur falsch. »Einige Feuerköpfe riefen auch zur Revolution auf. Diese echten Jakobiner bildeten jedoch eine winzige Minderheit innerhalb einer ohnehin nur wenige Köpfe zählenden Minorität. Weitaus häufiger setzten die Sympathisanten der Französischen Revolution, wie sie sach vor allem im Süden und Westen, aber auch in Wien, Hamburg und Königsberg regten, die längst vertraute Kritik der Aufklärung am deutschen Spätabsolutismus zugespitzt fort, bauten auf staatliche Reformgesetze und die Kraft ihrer Argumente. Nirgendwo wurden Massen von Ihnen in Bewegung versetzt, Die Resonanz unter der Bevölkerung blieb aus, wie auch das Mainzer Beispiel zeigt. […] An keinem Ort waren die 'Jakobiner' ‚stark genug‘, um (auch nur ihren eigenen Regierungen Kopfschmerzen zu verursachen» (Hobsbawm). « (Wehler, S. 356 f)

Ich nehme an, dass der Sozialhistoriker Wehler, der das Geheimnis einer Geschichtsepoche in der Masse, in einer Zahlengröße also, sieht, den zitierten Absatz nach genauer Abwägung der Zahlen niederschrieb. »Einige Feuerköpfe«, »eine winzige Minderheit innerhalb einer ohnehin nur wenige Köpfe zählenden Minorität«. Wie viele könnten die »nur wenigen Köpfe« sein? Wohl kaum mehr als ein oder zwei Dutzend. so wären sicher schon zu viel. Und innerhalb dieser ein bis zwei Dutzend von Revolutionsfreunden machten die »echten Jakobiner«, die zur Revolution aufriefen, wiederum nur »eine winzige Minontät« aus. Mit dem besten Willen kann ich bei Wehler auf höchstens ein bis zwei echte Jakobiner schließen.

Auf dieser Bahn gewaltiger Untertreibung fährt Wehler fort. »Nirgendwo wurden Massen von ihnen [den Sympathisanten der Französischen Revolution] in Bewegung versetzt.«  Wehler spricht hier aus einer tiefen Unkenntnis heraus. In und um Bergzabern waren Massen in Bewegung, was seit mehr als 120 Jahren bekannt ist. Massen nahmen am politischen Befreiungskampf in der Grafschaft Saarwerden teil. Auch dieses Ereignis verzeichnet die Literatur seit mehr als 100 Jahren. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Dann folgt eine uralte Lieblingsidee der konservativen Geschichtsschreibung, der Wehler aufgesessen ist: «Die Resonanz unter der Bevölkerung [auf die Sympathisanten der Französischen Revolution] blieb aus, wie auch das Mainzer Beispiel zeigt.« Gerade das Mainzer

Beispiel beweist das Gegenteil. Weitaus die Mehrheit der überhaupt in die Revolution hineingezogenen Gemeinden erklärte sich für die Demokratie. Und das Dorf Sprendlingen bei Bad Kreuznach setzte den Anschluss an die Mainzer Republik aus eigener Kraft durch, auch gegen die französische Politik. Rechts des Rheines fand das Mainzer Beispiel an zahlreichen Orten kräftige Resonanz: von Ulm bis Göttingen. Noch am Ende des Revolutionszeitalters sehnten sich in Böhmen ganze Landstriche nach der Revolution. Einige Gemeinden übernahmen in ihrem chiliastischen Zeitgefühl sogar den Revolutionskalender.

Der Schluss von Wehlers vorher zitiertem Abschnitt gönnt den Jakobinern noch nicht einmal das Trostpflaster, den eigenen Regierungen Kopfschmerzen verursacht zu haben. Ich weiß zwar nicht, wie ein Sozialhistoriker das Kopfweh einer Regierung feststellt, ich möchte aber annehmen, dass ständige Sorgen um den Untertanengehorsam so etwas wie Kopfweh im übertragenen Sinn andeuten dürften. Die Republik Knittlingen bei Mühlacker an der Enz verursachte 1800/01 der Stuttgarter Regierung ein ordentliches Kopfweh. Von den Sorgen der Obrigkeit zeugen mehr als nur verstreute Berichte. Die revolutionären, antifeudalistischen Separatisten der oppositionellen Untergrundgesellschaft in Württemberg waren nur durch Militär niederzuhalten, aber nie zu besiegen. Überraschend viele Rapporte auf allen Ebenen belegen, wie tief der Stachel dieser Chiliasten saß. Die Wiener Jakobiner bereiteten dem Hof eine gute Portion furchtbarer Kopfschmerzen. Warum hätte die Unterdrückung sonst so streng geheimgehalten werden müssen, selbst bis ins Jahr 1918? Die Flugschriften beunruhigten ständig die Regierungen. In Baden dachte der Markgraf daran, auszuwandern und ein Ersatzreich in Südrußland aufzubauen. Ein Auswanderungsplan dieser Art — gewiß sehr selten — hat doch wohl mit fast chronischen Kopfschmerzen zu tun.

Prüfen wir weiter Wehlers Abrechnung mit der Jakobinerforschung. »Ihre [der deutschen Jakobiner] führenden Persönlichkeiten Forster vor seinem frühen Tode, auch Rebmann und Görres — wandten sich spätestens um 1800 vom französischen Vorbild enttäuscht ab.«  (Wehler,  S. 357) Wehler, kaum vertraut mit der Demokratieforschung, entging der qualitative Sprung von der aufsteigenden Phase der Französischen Revolution (bis 1794) zum Abfall unter den Thermidorianern und unter Napoleon. Wenn ein deutscher Jakobiner wie Georg Kerner sich 1801 von Frankreich lossagte, trennte er sich keineswegs vom französischen Vorbild schlechthin, sondern ging nur den Weg nicht mit, den Napoleon zur Liquidierung der Republik einschlug. Gerade die Abwendung von Frankreich im Geist einer demokratischen Kontinuität hält die deutschen Jakobiner von den Verdächtigungen der späteren Kritiker frei, die ganze Einstellung zur Revolution sei nicht auf Dauer angelegt gewesen.

Danach zählt Wehler verschiedene Bauernrevolten auf, die zu keiner allgemeinen Revolution führten. Er folgert daraus: »Die Mehrheit der Bevölkerung blieb stumm und passiv.« (S. 358) Und weiter: »Die städtischen Unterschichten schließlich waren in Deutschland noch lange nicht konfliktfähig.« (S. 3 58) Wenig später heißt es endlich: »Eine ausgereifte sozialrevolutionäre Situation war, wägt man alles ab, trotz der offenen Zusammenstöße, die manchen Zeitgenossen bestürzten, in Deutschland nicht vorhanden.« (S. 359)

Mit seiner Mehrheitsbetrachtung, für die Wehler sich auf keine ausreichenden Forschungen stützen kann, erklärt er im nachhinein die Bevölkerungsmehrheit für stumm und passiv. Das stimmt noch nicht einmal für Landschaften, die wenig revolutionären Geist zeigten. Diese verzerrte Perspektive rührt daher, dass Wehler spektakuläre Ereignisse für den entscheidenden Maßstab geschichtlicher Aktivität zu halten scheint. Stumm ist eine Bevölkerung sowieso nie. Nur muß man verstehen, ihre erstickte Stimme, die einst in Gasthäusern, bei Gemeindeversammlungen, Zehntabgaben, nach der Kirche oder bei Festen recht deutlich zu vernehmen war, wieder zum Reden zu bringen. Dazu taugen freilich die von Wehler angewandten Methoden nicht. Nach Passivität sieht es nur für denjenigen aus, der überall einen Bastillesturm erwartet.

Die städtischen Unterschichten seien nicht konfliktfähig gewesen? Waren denn die zahlreichen Gesellenstreiks und die Hungeraufstände keine Konflikte? Und was ist von den Nürnberger Feuerarbeitern zu halten, die gegen die Lebensmittelteuerung und die Spekulationsgeschäfte mit ihrem Hunger zur Selbsthilfe griffen, ganz ähnlich wie die Sansculotten von Paris? Dass damals »eine ausgereifte sozialrevolutionäre Situation« in Deutschland herrschte, hat kein Jakobinerforscher je behauptet. Diese Unterstellung entstammt einer konservativen Mentalität, die bei der Begegnung mit einer revolutionären Bewegung stets zugespitzte Verhältnisse erwartet: das Äußerste. Weniger darf nicht sein, es wäre nichts wert. Der Vergleich allein mit dem radikalsten Beispiel der Revolutionszeit in Europa garantiert zwangsläufig, daß jedes andere abgewertet werden muss. Für die differenzierte Beurteilung eines schwächeren revolutionären Potentials als in Frankreich findet sich dann kein Spielraum mehr.

Endlich offenbaren die Anmerkungen (Wehler, S. 634 f) zu Wehlers verunglücktem Kapitel, in welches Fahrwasser der Autor geraten ist: in das eines größtenteils von Konservativen kontrollierten Zitierkartells.

Wie moderne Jakobinerforschung seit 1962 ist bei dem Bielefelder Sozialhistoriker noch nicht angekommen. Worauf Wehler sich stützt, das sind massive Abwehrarbeiten konservativen Zuschnitts, die sich unendlich Mühe geben, an den immer neuen Quellenforschungen emanzipatorischer Ausrichtung vorbeizuschreiben. »Bei Fehrenbach findet sich eine vorzügliche Kritik der neueren Forschung, die aus politischer Parteilichkeit oder Gesinnungsethik die (demokratische Gegentradition, dieser »Jakobiner« »meistens überschätzt.« (Wehler, S. 634, Anm. 3) Die Unterschätzung dieser Strömung stützt sich also auf eine tertiäre Studie, die ihrerseits auf einer schmalen Quellenkenntnis basiert. Das ist Geschichtsschreibung aus dritter Hand, gegen sperriges Quellenmaterial abgeschottet durch eine generalisierende Abqualifizierung.

Nun muss natürlich auch die Mainzer Republik ihr Fett abbekommen. »Den revolutionären Mythos von Mainnz              widerlegen überzeugend Dreyfus und Blanning, wonach sozialrevolutionäre Unruhen der Errichtung der kurzlebigen Republik keine Rolle gespielt haben.« (Wehler, S. 635) Der Kenner der Mainzer Geschichte und der neuesten Forschungen wird belustigt feststellen, daß Wehler mit dem von ihm erfundenen »revolutionären Mythos von Mainz« miteinander völlig unverträgliche Autoren in denselben Topf wirft: Scheel, Träger, Tervooren und Dumont — marxistische Autoren (Scheel und Träger) neben einem rührigen CDU-Mitglied (Dumont).

Mit derselben Logik, die stets nur die zugespitzteste sozialrevolutionåre Grundsituation als Maßstab anzulegen erlaubt, könnte Wehler recht gut auch das Hambacher Fest (1832) zu einer kleingedruckten Fußnote der deutschen Geschichte herunterstufen. Denn zur Volksversammlung auf dem Hambacher Schloß führte keine sozialrevolutionäre Umsturzbewegung. Deren wirkliche Anhänger, samt und sonders Habenichtse, blieben nämlich einfach zu Hause, weil sie kein Geld für die Reise besaßen und weil sie in dieser Zeit Wichtigeres zu tun hatten: Sie stürmten die Rathäuser, setzten wieder Freiheitsbäume, leerten die Gemeindekassen, stürzten Gemeindebeamte und holten sich Holz aus den Wäldern, unerlaubt, versteht sich. Mit der nationalen Einigungsbewegung von Hambach hatten sie nichts am Hut.

Bei den zuletzt genannten Arbeiten von Dreyfus und Blanning hat die Wehler leider entgangene Kritik schon lange festgestellt, dass diese Arbeiten dem alten kurfürstlichen Regime weit näher stehen als der revolutionären Demokratie. Dreyfus selbst untersuchte nur einen schmalen Ausschnitt der Mainzer Republik, die soziale Zusammensetzung des Mainzer Jakobinerklubs, übrigens auf einer schwankenden, recht problematischen Quellenbasis. Außer dem Verteilen der Mitglieder in verschiedene soziale Schubladen trug er wenig bei. Nach einer sozialen Analyse der inneren Entwicklung in Mainz sucht man vergebens. Blanning will die Bedeutung der Mainzer Revolution mit Bevölkerungszahlen herunterspielen, die Heinrich Scheel als völlig überhöht und als Produkt der reaktionären Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat. 

Wehlers Rundumschlag gegen ein ganzes Zeitalter und gegen die Protagonisten einer neuen Gesellschaftsordnung versperrt neue Fragestellungen, für die ein Sozialhistoriker eigentlich ein Gespür haben müßte. Die aktuelle Frage, wer in der modernen Demokratie eigentlich die führende Schicht stellt und wer weiterhin Lastesel spielen muß, bleibt ebenso außer Betracht wie die Frage nach der inneren Entwicklung einer Opposition, die in den Untergrund verbannt bleibt.

Eine andere Art, die Revolutionszeit theoretisch zu verarbeiten  wehrt fruchtbare Fragen nicht bloß ab, sie wird selbst zum Schrecken. In einer umfassenden Studie zu den Gesellenstreiks des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich Andreas Grießinger auch mit der Revolutionszeit. Wer hier Aufschlüsse über die politische Kultur einer nichtbürgerlichen Schicht sucht, wird entsetzt auf eine verständnisferne Sprache stoßen. Im folgenden will Grießinger die Funktion der Gesellenlade erklären: »Innerhalb des bislang grob skizzierten externalistischen Konstitutionsmodus von Gruppenkohäsion ist es notwendig, die kollektive Identität der Gruppe selbst symbolisch zu objektivieren, d. h. in  gegenständlicher Form darstellbar und sinnlich wahrnehmbar zu machen. Diese Funktion wird der Gesellenlade zugeschrieben.« (Grießinger, S. 108) Etwas später interpretiert Grießinger, was bei einem Umzug der Schuhmacher in Nürnberg 1799 das Auftreten zweier Hanswurste und eines Gesellen mit einem überdimensionalen Stiefel und eines anderen mit einem winzigen Stiefel zu bedeuten hatten: »Der antihierarchische Festaspekt des Umzugs, der «den Triebverzicht vorübergehend  aufhebt, d. h. aussetzt, und die Überschreitung des sonst Tabuierten erlaubt), äußert sich in den Personen der Hanswurste und vor allem in  den Trägern des großen und des kleinen Stiefels. Ihre ironisierende Funktion durchbricht die rituelle Regelhaftigkeit des Umzugs und kontrastiert die Formen pompöser Feierlichkeit mit Mitteln zirzensischer Festlichkeit.« (Grießinger, S. 111)

In dieser Sprache geht es weiter. Hier soll theoretisches Nachdenken keine Erklärung mehr fördern. Es dient dazu, sich in einer extrem abstrakten Gedankenwelt abzuschließen, die sich vor der wirklichen Lage der Gesellen, ihrer Sorgen, Kämpfe, Lebensweisen schon lange in ungreifbare Höhen geflüchtet hat. Wer in die Sprachgewohnheiten dieser Historikerzunft nicht eingeweiht ist, wird zurückweichen. Eine Art von sprachlicher Terreur, die die Herrschaft weniger Hochspezialisierter der Durchschaubarkeit entzieht.

Für das vergessene Zeitalter der deutschen Jakobiner brauchen wir heute weder eine erneute Abqualifizierung noch die Schreckensherrschaft einer kaum nachvollziehbaren Theorie. Nötig zu sein scheinen mir Impulse, die die Auseinandersetzungen von damals um Freiheit und Gleichheit wieder aufgreifen, vergegenwärtigen und, wo es geboten erscheint, fortführen. Wir brauchen keinen Weihrauch für unsere vergessenen ersten Demokraten, keinen bloßen Austausch monarchistischer Straßennamen gegen republikanische.

 An den deutschen Jakobinern ist nicht alles bürgerlich. Einiges reicht darüber hinaus in eine egalitäre, kosmopolitische Zukunft. Und nicht alles Plebejische ist zukunftsträchtig. Bei mancher Aktion überwogen schrille Schreie aus schwärzester Verzweiflung und Wut. Alles fiel dann In sich zusammen, wenn der Bauch sich wieder voll anfühlte.

Noch sind die Hoffnungen nicht ganz auf die Welt gekommen, um die es auch im Zeitalter der deutschen Jakobiner ging. Viele Sehnsüchte wurden schon damals nicht gestillt. Das Erbe jener Epoche bleibt umstritten. Wem gehört es: den Liberalen? den Konservativen? den Gemäßigten aller Länder? Der Geschichtsschreiber hat nichts mit einem Testamentsvollstrecker zu tun. Diese beiden Bände können nur das Tor zu einer politischen Utopie aufschließen, durch das vor uns schon unzählige andere zu gehen suchten. Wenn auch wir diesen Weg einschlagen, wird die Bewunderung für die Toten auf dem »Friedhof der Namenlosen«» (Kurt Eisner) sich von selbst einstellen.

Zum Schluß: der besseren Lesbarkeit zuliebe bringe ich die alten Texte in modernisierter Rechtschreibung und Zeichensetzung, im Wortlaut aber unverändert.

Meine Archäologie der demokratischen Frühzeit wäre gewiss weniger weit vorangekommen, wenn ich nicht in zahlreichen Archiven und Bibliotheken Hilfe bekommen hätte. Diese Orte und Institutionen alle herauszuheben, hätte einen langen, die Leser langweilenden Ortskatalog zur Folge. Wer sie dennoch wissen will, schaue am Ende des Kapitels unter der Rubrik »Quellen und Literatur« nach. Mein herzlicher Dank allen, die mich bei diesen beiden Bänden unterstützt haben.

Literatur:

  • Dumont, Franz: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz, Alzey 1982
  • Grab, Walter: Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten französischen Revolution, Hamburg 1966
  • Grießinger, Andreas: Das symbolische Kapitel der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert, Frankfurt—Berlin—Wien 1981
  • Haasis, Hellmut G.: Bibliographie zur deutschen linksrheinischen Revolutionsbewegung in den Jahren 1792/1793. Die Schriften der demokratischen Revolutionsbewegung im Gebiet zwischen Mainz, Worms, Speyer, Landau, Sarre-Union, Saarbrücken und Bad Kreuznach, Kronberg/Taunus 1976
  • Reinalter, Helmut: Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte desvJakobinertums und der frühdemokratischen Bestrebungen in der Habsburgermonarchie, Wien—Köln—Graz 1980
  • Ders. (Hg.): Jakobiner in Mitteleuropa, Innsbruck 1977 (S. 433—481 Bibliographie)
  • Scheel, Heinrich (Hg.): Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18.Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1965
  • Ders. (Hg.): Die Mainzer Republik, 2 Bände, Berlin (DDR) 1975—81
  • Ders.: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1962
  • Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1. Bd.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700—1815, München 1987